Die Schülerinnen und Schüler aus den vier sechsten Klassen bringen sich in Startposition, rangeln um die besten Plätze, Anoraks rascheln, Stühle werden gerückt, ein Stimmengewirr dringt aus der Aula, als wäre der Bienenstock der Schule hier zu Hause, ehe ganz allmählich Ruhe einkehrt. So war es all die Jahre in den Minuten unmittelbar vor dem Vorlesewettbewerb, der Kür des Schulsiegers bzw. der Schulsiegerin am Gymnasium Marktoberdorf.
Und dieses Jahr? Am Freitag, dem 11.12. um 11.30 herrscht in der Aula vor allem eines: Stille. Und das ist nicht verwunderlich bei der gähnenden Leere im Saal. Denn 2020 fehlt pandemiebedingt das Publikum. Aber geht es beim Vorlesen nicht genau darum, Zuhörer zu erreichen, anderen Menschen ein Schlupfloch in die Fantasie zu bieten und sie im besten Falle mit auf die Reise in eine neue, eine andere Welt zu nehmen? Und was könnte es Schöneres geben, als sich von guten Vorleserinnen einfangen und mitnehmen zu lassen, gerade in Corona-Zeiten, wo wir uns alle gerne in andere Wirklichkeiten wünschen? Leider aber kommt nur eine handverlesene Schar von Zuhörern in diesen Genuss.
Die vier Zweitplatzierten aus den 6. Klassen und ihre Deutschlehrer Ingrid Schaffert, Claudia Lutzenberger und Andreas Breitruck sowie der Stellvertretende Schulleiter Arne Böhler der 6c haben – alle maskiert und in gebührendem Abstand voneinander – ihre Plätze an den Jurorentischen eingenommen, die im Halbkreis um die Bühne stehen und blicken gebannt zur Bühne, wo Laura Krebs, die Klassensiegerin der 6a, bereits darauf wartet, ihr Buch vorstellen zu dürfen.
In der ersten Runde geht es darum, eine selbstgewählte Textstelle aus einem Jugendbuch anschaulich und lebendig vorzutragen, was für die Klassensiegerinnen allesamt ein Leichtes ist, sind sie doch bestens auf diese Aufgabe vorbereitet.
Laura Krebs (6a) artikuliert sehr klar, setzt gekonnt Kunstpausen und nimmt die Zuhörer durch ihren ruhigen, souveränen Vortrag mit in die geheimnisvoll-spannende Welt der „Duftapotheke – Ein Geheimnis liegt in der Luft“ von Anna Ruhe. Kenner wissen, dass es sich dabei um den ersten Band einer mittlerweile fünfbändigen Reihe handelt. Anschließend dürfen die Zuhörer dem Privatdetektiv Wanze Muldoon in eine Gartenwelt folgen, denn auch unter Insekten finden sich nicht nur friedfertige Wesen, sondern auch echte Schurken, die nichts Gutes im Schilde führen, was Michelle Heumann (6b) im Insektenkrimi „Die Wanze“ von Paul Shipton anhand eines Textausschnitts, in dem viele Stimmen vernehmbar sind, anschaulich zu Gehör bringt. Paula Ampßler (6c) bietet nun temporeich einen Einblick in den „Wald der Abenteuer“ von Jürgen Banscherus, in dem sich zwei Schüler auf einer Klassenfahrt bei einer Nachtwanderung im Wald verirren. Zuletzt folgt eine nach allen Regeln der Kunst sehr sicher, äußerst lebhaft und mit einer guten Portion schauspielerischem Talent von Frieda Krebs (6g) vorgetragene Passage aus Astrid Lindgrens beliebtem Jugendbuch „Ronja Räubertochter“ über die schwierige Freundschaft zwischen Ronja und Birk, die sich gegen die Interessen ihrer beiden verfeindeten Familien, die zu allem Unglück auch noch die Mattisburg teilen, behaupten müssen.
Das Ende des jeweils ca. dreiminütigen Vortrags wird von Herrn Böhler dezent durch einen Glockenschlag angedeutet. Die Leserinnen kommen zum Ende und schon sieht man erste Schweißperlen auf den Stirnen der Juroren, denn sie stehen wahrlich vor keiner leichten Aufgabe, müssen sie doch die feinen Unterschiede zwischen vier sehr guten Leserinnen in Punkte fassen. Bewertet werden die Lesetechnik (also deutliche Aussprache, sinnvolle Betonung, das richtige Lesetempo), die Interpretation (die Einfühlung) und die Textstellenauswahl an sich.
In der zweiten Runde wird den vier Finalistinnen ein unbekannter Text vorgelegt mit einem möglicherweise bekannten Problem: Wie muss man sein, um „cool“ zu sein? Kann man Coolsein lernen? Zu Beginn des Jugendbuchs „Cool in 10 Tagen“ von Katja Reider, dessen Titel Programm ist und das durch seine witzigen, schlagfertigen Formulierungen für sich einnimmt, klagt die Hauptperson Juli so ziemlich über alles: über ihren seltsamen Namen und besonders über ihre Mutter, die alle immer gerne „coachen“ möchte und nun auch noch den neuen Nachbarn zugesagt hat, dass Juli sich um deren gleichaltrigen Sohn kümmern werde. Zu allem Unglück heißt er auch noch August. Juli kann sich schon lebhaft vorstellen, wie ihre Klassenkameraden sie hänseln werden, sollte der Neue auch noch an ihre Schule kommen. Nach einer kurzen Einführung geht es mit dem Fremdtext ans Eingemachte. Dieses Mal sind die Teilnehmerinnen in umgekehrter Reihenfolge am Start. Nun zeigt sich, wie gut sie beim Lesen vermögen, mit den Augen ein kleines Stück vorauszulesen, bis man den Text so weit erfasst hat, dass der Vortrag sicher gelingt. Obwohl diese Übung deutlich schwieriger ist und jede Leserin auch mal leicht stockt, so zeigt sich auch hier, dass die Klassen die richtigen Siegerinnen gewählt haben, denn alle vier lesen sich mit zunehmender Dauer des Vortrags gut in die Geschichte ein. Der Vortrag wird flüssiger und man hört der amüsanten Klage Julis über ihr vermeintlich schweres Los gerne zu.
Während die Punkte addiert und damit die Siegerinnen bestimmt werden, erhalten die Zweitplatzierten des Klassenwettbewerbs - Tobias Fleiß (6a), Samira Sagir (6b), Arez Bukhari (6c) und Leonie Freudling (6g) auch noch jeweils die Gelegenheit, ihr Talent und Können unter Beweis zu stellen.
Denkbar eng, aber doch eindeutig ist der Ausgang: Frieda Krebs wird Schulsiegerin und erhält den mit dem Jugendliteraturpreis 2020 ausgezeichneten luftig-leichten Sommerroman „Freibad“ von Will Gmehling als Preis. Auch die anderen Siegerinnen werden in kleinem Kreis gefeiert, erhalten alle eine Urkunde und ein kleines Taschenbuch als Anerkennung ihrer Leistung. Stolz stehen sie beim Fototermin auf der Bühne, ehe es für ein knappes Viertelstündchen in die Bibliothek zum Schmökern geht. Kurz vor Schulschluss dürfen die Klassensiegerinnen dann endlich ihren Klassenkameraden berichten, welche lesenswerten Büchern sie soeben kennengelernt haben, schließlich steht Weihnachten vor der Tür, vor allem aber dürfen sie sich– mit dem gebotenen Abstand – endlich gebührend feiern lassen.
Text: Claudia Lutzenberger
Fotos: Thorsten Krebs