"Waggon vierter Klasse" - die spannende und berührende Geschichte eines Außenseiters
„Das Weinen der Nutrias“ – so wollte Robert Domes sein neues Buch ursprünglich nennen. Aber dann – zur Verwunderung der 180 versammelten Neunt- und Zehntklässler in der Aula – habe der Verlag den Titel „ausprobiert“: Die unbefangenen und offensichtlich in Biologie nicht umfassend vorgebildeten Probeleser konnten mit dem Titel einfach nichts anfangen – wer kennt schon Nutrias, biberähnliche Nagetiere, die bis in die Nachkriegszeit hinein in Pelztierfarmen gehalten wurden? Dass Verlage einen so großen Einfluss auf Buchtitel nehmen können, gehört neben der Existenz von Pelztierfarmen im Obergünzburg der Jahre 1948/49 zu den Überraschungen für die Zuhörerinnen und Zuhörer bei Domes´ Lesung.
Interessante Einblicke in die Arbeitsweise von Autor und Verlag
Der Roman, den der Irseer Autor am 08.03. in unserer Aula vorstellte, erhielt auf Vorschlag des Verlags dann letztlich den Titel „Waggon 4. Klasse“, mit Bezug auf den zentralen Handlungsort und gleichzeitig die Verbindung der zwei kunstvoll verknüpften Handlungsstränge: Einerseits greift das Buch (fiktional, aber von verschiedenen Berichten inspiriert) das Schicksal des 16-jährigen Flüchtlingsmäd-
Eine bewegende Lebensgeschichte - akribisch recherchiert und packend erzählt
chens Martha auf, das nach dem 2. Weltkrieg mit Vater und Bruder einen ehemaligen Waggon am Rand von Obergünzburg bewohnt, und zwar auf dem Gelände der schon erwähnten Nutria-Farm. Andererseits erfährt der Leser parallel dazu in den Alois Roth gewidmeten Kapiteln von dessen Leben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Dieser Teil der Geschichte ist wahr und beruht auf akribisch recherchierten Dokumenten: Der Obergünzburger Alois, ursprünglich ein vielversprechender Musterschüler, gerät als Kleinkrimineller immer mehr auf die schiefe Bahn, die ihn als Außenseiter auch zum Bewohner des Waggons am Dorfrand macht, bis er unter den Nationalsozialisten nach Auschwitz deportiert und letztlich umgebracht wird. Immer mehr geht nun Martha auf Spurensuche und versucht herauszufinden, was mit ihrem Vorbewohner geschehen ist.
Der Struktur des Romans entsprechend, las Robert Domes Ausschnitte vor, die abwechselnd Marthas und Alois´ Perspektive wiedergeben. Am Ende des Vortrags zeigte er ergänzend eine Reihe von Fotografien, am beeindruckendsten wohl ein Häftlingsfoto von Alois aus dem Konzentrationslager. Die abschließenden wohlüberlegten und klugen Fragen des Publikums führten dann zu interessanten Schätzen aus dem Nähkästchen des Autors Domes: Dass die Recherche und Strukturierung des Materials mehr Zeit in Anspruch nimmt als das eigentliche Schreiben. Oder dass es schwierig ist, sich einer „Schublade“ zu entziehen, in der man als Autor einmal gelandet ist, wie Robert Domes nach seinem sehr erfolgreichen Roman „Nebel im August“, den er vor Jahren auch schon an unserer Schule vorgestellt hat. Oder dass Verlage Titel mit dem Bestandteil „Nutria“ ablehnen.
Dr. Michael Köck
Fotos: Andrea Kiechle